Meisterschaft und Missbrauch

Es waren mit die schönsten Momente meines Lehrerdaseins: Als Christian „Schrammel“ sein erstes Solo auf der E-Gitarre spielte und sich dazu ein Stück ins Publikum begab; als Judith „Oh happy day“ im Jugendgottesdienst sang und mit dem Stück so verschmolz, dass ihren Freundinnen in der ersten Bank die Münder offen stehen blieben; als Sabrina mit den Händen in den Hosentaschen obercool „Bitch“ sang, obwohl sie die Blamage fürchtete und nicht auftreten wollte – und anschließend die Turnhalle mit über 500 Schülern vor Begeisterung tobte; als Yannick „zur Strafe“ eine Stunde Mathe in der 9 unterrichtete und die 9er später bei Schwierigkeiten nach ihm riefen; als meine fünf Djembé-Trommlerinnen mir zusicherten, dass sie den Trommelkurs auch allein weiterführen könnten; als Fiona und Robin Anfang der Klasse 6 den Mitschülern eine Teilbarkeitsregel für die 7 beibrachten, die dann ohne mein weiteres Nachhaken so in der Klassenarbeit abgeprüft wurde; als zuletzt Emilian zu meinen Lösungen in Informatik nachdenklich meinte, dass das eigentlich noch eleganter gehen müsste…

In den letzten Jahren habe ich – in der Regel außerhalb des Unterrichts – meinen Schülern immer wieder gesagt, dass mein Unterricht etwas Besonderes sei. Ich sei zwar kein besserer Lehrer als andere, trotzdem könnten sie bei mir Dinge lernen, die sie nur bei mir lernen könnten. Dass daraufhin mein Höhensatz auch in der benachbarten Realschule gelehrt wurde, ehrt mich zwar, hat aber nichts mit dem Gemeinten zu tun.

Ich möchte ein Meister sein – ein Meister, so wie es Christian, Judith und Emilian waren und sind. Ich bin ein Meister, wenn ich mich von einer Sache packen lasse, wenn ich diesen Punkt überwinde, den alle oben genannten überwinden mussten: „Vielleicht könnte ich das, Anzeichen dafür habe ich, aber vielleicht blamiere ich mich ja auch bis auf die Knochen… Und außerdem wissen dann alle, dass ich das kann, ich kann mich nicht mehr wegducken und meinen kleinen Fluchten frönen…“

Wir leben in einer Zeit, in der Quantifierung und Qualifizierung alles ist. Nichts sollte an der Person zum Beispiel des Lehrers hängen, ob der Unterricht gut ist, sondern lediglich an den genutzten Lehrplänen, Methoden, Medien und sonstigen ausgewiesen Details. Qualifizierung bedeutet sowohl bei Schüler und Lehrer eine messbare Größe, die – so die wissenschaftliche Grundlegung – unabhängig von Person des Gemessenen und des Messenden nachvollziehbar sein muss. Mit etwas Abstand betrachtet ist dies ein merkwürdiger Kontrast zu einem Paradigma unserer Zeit: dem scheinbar über alles rangierenden Individualismus. Individuum ja (immer und überall), Person aber nur in Bezug auf Gefühle und Privatheit, nicht aber Maß-geblich. Dabei zeigen konsequente „Messungen“ aller Hattie-Studien (bis zuletzt 2019) die vorrangige Bedeutung der „Persönlichkeit“ für den Erfolg eines Lehrers, dazu auch noch die Lehrer-Schüler-Beziehung. Da scheint die konsequent rationale Wissenschaftlichkeit sich selbst den Boden unter den Füßen wegzuziehen, oder?!

Das Wort Person besteht etymologisch aus zwei Teilen: Der Vorsilbe „per“ = hindurch und dem Verbstamm von „sonare“ = tönen, klingen. In der griechischen Kömodie traten die Akteure mit Masken auf. Sie verliehen dem „Charakter“ (!), den sie spielten, ihre Stimme. So stellte man sich damals auch ganz dualistisch Leib und Seele vor: Die Seele nimmt den Leib in Besitz und „tönt durch ihn hindurch“. Die, wie ich finde, schöne und aktuelle Vorstellung dabei ist, dass der Mensch sich für eine Wirklichkeit, mehr noch: für die Wahrheit, öffnen muss. So wie Christian sich für das Gitarrenspiel, Judith für den Anspruch des Lieds „Oh happy day“, Emilian für die Idee der Webseitenerstellung öffnen musste (und dieses Müssen internalisierte, wie man heute sagt), so lässt sich alles Lernen letztlich so begreifen: Sich für eine Wahrheit, besser: eine Meisterschaft öffnen bis hin zur Meisterschaft des eigenen Lebens. Letztlich will ich meine Schüler dahin führen, zu Meistern ihres eigenen Lebens zu werden, auch wenn man sich dabei blamieren oder auf bestimmte Aspekte der Persönlichkeit festgelegt werden kann.

Per-son und Wahrheit sind zwei Begriffe, deren Schicksale eng miteinander verknüpft sind. Um einer abstrakten weil messbaren Gerechtigkeit willen hat man sie ersetzt durch Individualität und Wissenschaftlichkeit. Phänomenologische Studien wie die von Hattie zeigen uns: Dieser Paradigmenwechsel hat eine Lücke gerissen. Wir brauchen Personalität und Wahrheitsanspruch mehr denn je, vor allem in der Schule.

Und doch: Gerade jetzt scheint eine Rückkehr zum Lehrer als „Meister“ obsolet zu sein. Nicht nur der Skandal um die Odenwaldschule, auch und gerade der Missbrauch in Kirchen und Vereinen bis hin zur „Me too“-Debatte zeigen auf, wie verwundbar das Konzept der „Meisterschaft“ ist. Missbrauch bedeutet immer: Machtmissbrauch, wie auch immer er sich ausprägt. Lehrern anzutragen, sie sollten sich als „Meister“ gerieren, öffnete Machtmissbrauch Tür und Tor. Und das wollen wir nicht, oder?!

Ich möchte einmal den Fokus auf das lenken, was beim Missbrauch passiert – leider auch aus eigenen schmerzhaften Erfahrungen. Missbrauch beginnt nicht erst dort, wo ich ein Kind unsittllich berühre, sondern immer dort, wo ich meine eigenen kleinen (im schlimmsten Fall: Schon größer gewordenen) Fluchten bediene. Das kann materieller Nutzen sein (Bestechlichkeit, „Gefälligkeiten“), Faulheit (ich lasse Schüler unterrichten, damit ich nicht selbst „vor diesem Haufen stehen“ muss), präsexuelle Motive (ich lasse die Schülerin vorsingen, weil sie mir „gefällt“), und einiges andere mehr. Von außen lässt sich ein Umschwung von einer intrinsischen zu einer extrinsischen Motivation eines Lehrers kaum erkennen. Umgekehrt ist Missbrauch immer nur dann wirkungsvoll und nachhaltig schädlich, wenn ein vorher gelebter Idealismus gekippt ist und benutzt wird für kleine, kurzfristige Vorteile. Missbrauch ist oft die Konsequenz von Missbrauch. Der völlig Idealismus-freie Turnlehrer, der zu uns in die Dusche kam, um sich mal kleine nackte Jungs anzusehen und auch anzufassen, der hat das nur ein einziges Mal versucht. Das hat mir persönlich kaum geschadet – viel weniger als mancher Missbrauch im weiteren Leben ohne sexuellen Bezug –, weil seine Versuche völlig überzeugungsfrei waren, dieser Mann und sein Verhalten waren für mich als Kind einfach nur „doof“.

Was also tun, wie nun umgehen mit diesem Dilemma von Meisterschaft und Missbrauch? Zuerst einmal sollte ich mir klarmachen: Als Lehrer habe ich Macht, und Macht ist gleichermaßen Voraussetzung für Erfolg wie korrumpierbar. Als Lehrer bin ich auch Mann und ein sexuelles Wesen. Ich gebe meine Sexualität nicht an der Schultür ab, sondern muss sie verantwortungsvoll nutzen und mich regelmäßig kontrollieren, wie ich mit Kindern umgehe. Wenn eine Schülerin mich zuhause einfach mal so besuchen will, dann habe ich etwas falsch gemacht, dann habe ich die falschen Signale gesendet. Als Lehrer bin ich vor allem auch Per-son. Da ist eine Wahrheit in mir, die größer ist als ich: Das muss meine Überzeugung sein. Und das führt dazu, dass ich mich um dieser Wahrheit willen bestimmten Anforderungen und auch Kritik aussetze. Dann muss ich eben meine geliebte Freizeit für eine außerschulische Aktion verwenden, aber ich werde ja auch reich dafür belohnt: Mit diesem Gefühl der Meisterschaft, ergriffen zu sein von etwas, das dann auch noch gelingt. Und mit meinen Eleven die höchste Meisterschaft von allen anzugehen: die Ars Vivendi.

Ich bin nun schon über 60 Jahre alt. In der Rückschau erlebe ich die kleinen Versuchungen von Machtmissbrauch bei mir auch als Schule in einer letzten Meisterschaft, die man im Barock pathetisch Ars Moriendi genannt hat. In der Schule beginnt das mit dem ersten Tag als Lehrer: Anerkennen, dass das Leben mit den Schülern immer mehr „kann“ als ich. Ich muss Abgeben lernen, Verantwortung übertragen lernen. Das Meister-Schüler-Verhältnis lebt auch davon, dass der Meister älter und schwächer wird (hier und da vielleicht auch moralisch schwächer) und längst nicht alles weiß. Irgendwann kommt so ein Emilian und sagt: „Das muss doch auch anders, besser gehen… So kann das doch nicht gedacht sein…“

Die Meisterschaft bleibt, aber sie wächst ständig über den Meister hinaus, lässt ihn demütig bleiben (nicht irgendwem, sondern der Wahrheit gegenüber). Missbrauch kann man vorbeugen, indem man sich der Realität, den real existierenden Menschen, den Unzulänglichkeiten der Umgebung wie der eigenen aussetzt und sich ständig öffnet für eine noch größere Wahrheit. Nichts anderes meint übrigens auch Wissenschaft, nur mit der methodischen Voraussetzung, von der Person des Forschenden abzusehen.




8 Möglichkeiten, pädagogische Probleme zu lösen

Die Übersicht entstammt eigentlich einem Buch aus der Hundeerziehung, die ich nur leicht abgewandelt habe (zB das Wort 'Hund' durch 'Schüler' ersetzt). Da die Erwartungen an die Erziehung (m)eines Hundes etwas niedriger gehandelt werden als an die (m)eines Kindes, können Referendare und Lehrer im weiteren Verlauf ihres Werdegangs ein wenig distanzierter und vielleicht auch amüsierter auf die Tabelle schauen und sich mit ihrer Art einordnen, wie sie Kindern gegenübertreten. Zugegeben ärgert mich das behaviouristische Verständnis im Bildungs- und Erziehungsprozess, gerade dann, wenn das Konditionieren mal wieder so wundervoll funktioniert hat. Aber gerade in der Zwickmühle zwischen emanzipatorischen Zielen und dem Druck, das Bildung und Erziehung auch funktionieren muss ist eine solche Analogie vielleicht ganz aufschlussreich...

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