Verhinderte Bergtour

Der Idealismus und die Höflichkeit suchen stets Opfer. Es heißt, mit der Höflichkeit verhielte es sich wie mit Airbags: Sie seien zwar selbst ohne Inhalt, minderten aber die Stöße des Lebens. Aber seien sie ehrlich: Hat Sie ein Airbag jemals zugetextet? Es sollte meine erste Berghütte werden. Voller Vorfreude und mit einer guten Portion heimlicher Weltflucht hatte ich mich auf den Weg gemacht, durch uringetränkte Großstadtbahnhöfe, öde Kleinstädte und eine langweilige Busfahrt, bis endlich Berge den Horizont weiter hinaufschoben und auffalteten. Die Vorfreude auf die Stille des Aufstiegs erreichte ihren Höhepunkt beim Aussteigen aus dem Bus. Mit dem Dieselgestank der Blechkarosse verschwand alle Anonymität. Hier war nur noch ich. Selbst die Berge würden ohne Hintergedanken und Anspruchsgehabe ihre Namen preisgeben, wenn ich mich nur um sie bemühte, dessen war ich mir sicher. Doch schon der erste steilere Aufstieg machte aus den hübschen Bastelvorlagen für Modellbahnbauer grimmige Wadenbeißer. Das Herz schlug laut. Schweiß brach aus. Ich hatte mich darauf gefreut, mich wieder lebendig zu fühlen, mich zu spüren, ganz bei mir zu sein. Aber im Ernst: Der Moment, in dem man ganz bei sich ist, ist der Tod. Solch ein kleiner Tod biss mich nun in die Wade, in die Brust, und machte mir das Atmen eng. Immerhin zwang er mich nicht nur zum Anhalten, sondern zugleich zum Schauen. Und so schaute ich. So muss die Psychologie entstanden sein, die uns allenthalben belästigt, dachte ich mir beim Weitersteigen und in Erwartung des nächsten kleinen Todes; alles ist Ich – der Weg, das Gehen, die Berge. Man erschafft sich in der Heimlichkeit ein Idealbild seiner selbst und streckt sich dann danach.

Die Sonne blitzte durch die Wolken und erleuchtete einen blanken Felsstreifen der Berge zwischen zwei Vegetationszonen. Woher wussten Sonne und Wolken, wie sie genau diesen Felsstreifen zum Leuchten bringen konnten? Und warum ging mich das etwas an?

Der dritte kleine Tod war nun kein wirklicher kleiner Tod mehr, sondern schon so etwas wie das Dampfen eines Schlachtrosses nach gewonnenem Tjost. Die Hütte war in Sicht. Alle Romantik der Berge kumuliert in diesem Moment, wo man „es“ geschafft zu haben glaubt.

*

Der Hüttenwirt hieß Heinz, so verkündete es eine Votivtafel, ein von mehreren Personen unterkritzeltes Dankschreiben, das in einem billigen Glasrahmen in der dunklen Hütte hing. Es roch nach Holz, muffig, aber gewöhnungsfähig. Hier gab es tatsächlich noch Glühbirnen, kleine runde stromfressende Kleinheizlampen. Die Lichtausbeute war dürftig.

Heinz brachte mir ein Bier. Zwar hatte er vor meinen Augen die Flasche aus einem von zwei Bierkästen geholt, geöffnet, das Glas befüllt und die halbvolle Flasche wieder provisorisch verschlossen in den Kasten zurückgestellt, aber das Bier schmeckte trotzdem. „Wir haben nur Lager.“ Er meinte nicht das Bier, sondern zeigte die schmale Stiege hinauf. Was meinte er wohl mit „wir“? Ich ließ meine Neugier verklingen und widmete mich wieder dem Bier. Ah, jetzt fiel es mir wieder ein: Dieses Schauen eben beim Gehen war mir so bekannt vorgekommen. Es war das gleiche Schauen, wie es einen zuweilen beim Biertrinken überkommt, das Schauen, das nicht kommunizierbar ist. Und wenn, dann bekommst du dafür gerne mal die Höchststrafe: Wofür du alles Zeit hast...!! Ich habe im Moment so viel Stress...!!!!

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Sie merken, ich bin noch nicht wirklich erholt, wenn ich so negativ fühle. Haben das Alte Testament und die Donald Trumps dieser Welt wirklich so Unrecht, wenn sie verkünden, dass – zumindest im Prinzip – jeder seines Glückes (und vor allem: Unglückes) Schmied sei? Ich löste mich also vom Bier, vom Schauen und den Erinnerungen an unangenehme Begegnungen und brachte meinen Rucksack nach oben – nicht ohne vorher meine Bergschuhe ordentlich neben der Treppe abzustellen, wo schon zwei Paar standen.

Im Lager, ganz an der Wand und mit dem Rücken zu mir, lag ein Mann. Schlief er? Egal, er wollte wohl nicht angesprochen werden. Ich stellte meinen Rucksack auf eines der sechs freien Kopfkissen, nahm leise Brille, Buch und Wanderkarte heraus und schlich wieder hinunter in die Stube. „Bist a Professor, wos?“ Heinz vertat seine Zeit offenbar nicht mit Gesprächseröffnungen. „Lehrer“, antwortete ich freundlich. „Wos i sog“, grummelte Heinz. Nun, da das Gespräch einmal begonnen war, nutzte ich die Gunst der Stunde. „Wie wird denn das Wetter morgen? Kann man da wohl auf den Ochsenkopf?“ Heinz verzog sein Gesicht. Anhand der Falten, die nun gänzlich neue Strukturen zeigten, musste ich annehmen, dass das Licht der Glühbirne doch bis zu ihm reichte. „G'witt'r“, sagte er knapp. „Und am ersten Tog gehst eh ned naufi!“ Aha, dachte ich, na gut. Dann würde ich mir eben die Zeit im Umfeld der Hütte vertreiben. Zum Entschleunigen braucht es ja nicht unbedingt einen Gipfel.

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Beim Abendessen waren wir dann zu viert. Der abweisende Rücken vom Lager entpuppte sich als Hans-Georg, ein Pfarrer, der sich selbst hier oben auf der Berghütte mit seinem schwarzen Hemd als solcher zu erkennen gab. Er hatte über dem zugeknöpften obersten Knopf einen weißen Streifen im Kragen, den ich nach dem Kaufen erst aus dem Hemd zu nehmen pflege, bevor ich es anziehe, anstatt ihn nach vorn zu drehen. Spott beiseite. Hans-Georg hat drei Wochen Urlaub im Jahr. Sieben Tage davon wollte er in den Bergen verbringen – näher bei Gott, wie er halb scherzhaft anmerkte –, zu Ehren Seines Schöpfungswerkes (da blickte er kurz nach oben in die Glühbirne), das ja auch in sieben Tagen entstanden sei. Ich konnte mir den Gedanken nicht verkneifen, ob er am sechsten Tag dann wohl auch einen Menschen machte... oder zwei... Ich fühlte mich schlecht, den armen Geistlichen, obwohl er mir qua persona nicht unbedingt sympathisch war, gedanklich diskriminiert zu haben. Man sollte von jedem Menschen doch erst einmal das Beste annehmen!

Wenden wir uns also dem Arzt zu. Heinz redete ihn mit „Fritz“ an, und der korrigierte lächelnd mit „Friedrich“. Man konnte sagen, er war ein schöner Mann – nicht hübsch, aber schön, wenn Sie wissen, was ich meine. Gebräunter Teint, aber nicht makellos, schlank, wenn auch etwas hager, Sonnenbrille auf dem kahlgeschorenen Kopf – was zugegebenermaßen im Halbdunkel der Berghütte etwas deplatziert aussah. Ihm gebührte die Souveränität des Wissenden, mehr noch: des wissenschaftlich Gebildeten, obgleich ja bekanntermaßen die Doktorandenleistungen gerade bei den Medizinern die geringsten sind. Aber das kompensiert der Mediziner ja mit Erfahrungswissen, das er aus unzähligen Begegnungen mit seinen Patienten begierig aufsaugt – außer natürlich an den Tagen, wo ihm nur wenig Zeit bleibt für den einzelnen Patienten. Oder wenn er die ewig gleichen Geschichten nicht mehr hören will. Ich für meinen Teil fühlte mich relativ wohl in der gemischten Runde, waren doch immerhin gebildete Menschen dabei.

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Ich hatte trotz der Wettervorhersage des Wirtes meine Karte ausgebreitet und mich als Neuling in den Bergen geoutet. Friedrichs nachsichtiges Lächeln beugte sich über seinen Finger auf der Karte und wandte sich dann mir zu. „Das sind 800 Höhenmeter. Für einen untrainierten Menschen wie Sie durchaus ein Risiko. Sie sehen mir so aus, als bewegten Sie sich zu wenig, äßen gern fett und fleischreich und tränken regelmäßig Alkohol. Ich will Sie nicht krank reden, verstehen Sie mich richtig. Aber für den Ochsenkopf..., am ersten Tag...“ „Morgen geht es ja sowieso nicht“, beruhigte ich ihn. Ich fühlte mich aber durchaus am Pranger durch seine ungebetene Kompaktdiagnose, war es doch die gleich Kerbe, in die meine unregelmäßigen Gewissensbisse hieben. Also Themawechsel! „Wo wollen Sie denn hin?“ fragte ich zurück. Zielstrebig sauste sein Finger auf einen Punkt am Rand der Karte: „Die Hohe Elf. Westaufstieg über den Kuhtritt, dann den Grat, durch die Wand auf die Schutthalde, am Rand hoch und über den Südgrat auf den Gipfel. Eine der Top-Touren hier, wenn man ein wenig Übung hat. Und die letzte, die mir noch fehlt.“

Hans-Georg hatte sich bis jetzt zurückgehalten. In der entstandenen Gesprächspause nahm er seinen Mut zusammen und fragte mit gesetzten Worten den Arzt: „Sie kennen sich hier aus?“ Friedrich lächelte. „Ein wenig... ja...“ Ich blickte kurz zu Heinz herüber, doch der schien die unterschwellige Ignoranz der Bedeutung seiner Person zu ignorieren. Er schien überhaupt eine genügsame Person zu sein. „Wissen Sie“, fuhr Hans-Georg fort, „ich brauche keine gefährliche Bergtour. Kennen Sie vielleicht einen kleineren ungefährlichen Gipfel hier in der Nähe? Vielleicht sogar mit ein wenig schöner Fernsicht? Wissen Sie, es heißt ja, dass man Gott auf den Gipfeln der Berge nah sei. Aber ich habe da mal an einer Bergtour mit Kletterei teilgenommen. Da ist einer von uns fast abgestürzt. Wissen Sie, ich finde, man kann Gott auch auf einem kleinen Berg nah sein...“ Das hatte er durchaus würdevoll gesagt, doch den leicht klerikalen Tonfall konnte Friedrich offenbar nicht gut haben. Er retournierte mit einer kleinen Spitze, bevor er wieder sachlich wurde: „Wo Sie Ihrem Gott nahe sein wollen, ist Ihre Sache. Aber einen hübschen kleinen Berg mit Aussicht...“ Sein wissender Finger glitt langsam über die Karte und versuchte Spannung aufzubauen. „...kurzer heftiger Anstieg, erst ein kleiner Vorgipfel, hier der Hauptgipfel, freie Sicht nach Süden... hier: Das Säule, 1590 Meter hoch...“ „Aha“, sagte Hans-Georg und ruderte mit seinem rechten Arm in Richtung Heinz. „Den Kuli... Darf ich bitte den Kuli...“ Heinz erfüllte ihm wortlos sein Begehren. Ein winziger Moment lang war der Kuli zwischen Hans-Georgs blasser und Heinz' knorpeliger Hand, unter der Glühlampe, über der Karte – und vor allem in meiner Fantasie – ein Bild, wie es Michelangelo zwischen Gott Vater und Adam nicht treffender hätte malen können. Der Schöpfungsakt des Geistlichen bestand nun darin, in MEINER Karte mit KULI einen Kringel um das Wort „Säule“ zu machen. „Oh, Entschuldigung, das ist ja Ihre Karte...“, sagte Hans-Georg erschrocken, bevor ich reagieren konnte. „Macht nichts, kein Problem“, hörte ich meine gute Erziehung sagen.

*

Das plötzliche Klatschen des heftigen Regens war gar nicht einmal so sehr der Grund des Erschreckens, als die Tür der Hütte geöffnet wurde. Es war offenbar eine Frau, die sich aus ihrem nassen Cape schälte (Erst später sollte mir auffallen, dass es nicht so nass war, wie es nach der Heftigkeit des dämmrigen Wetters hätte sein müssen). Sie war vielleicht Ende Dreißig und musste insgesamt als schlank bezeichnet werden. Ihre Haare waren trotz Benutzung des Capes nass geworden. „Igitt – was für ein Wetter!“ rief sie mit geradezu mädchenhafter Stimme in die Männerrunde. Ihr Kopf war schmal, das habe ich noch behalten; aber ob sie blond oder brünett war, kann ich heute nicht mehr sagen. Dazu war die Beleuchtung einfach zu funzelig. „Mach dich erst einmal trocken, Mädchen!“ rief Friedrich jovial. „Die beiden Handtücher oben sind von mir, kannst du benutzen, wenn du brauchst...“, sagte er benehmenstechnisch wie grammatikalisch unvollständig. Hans-Georg sah sprachlos auf die Erscheinung in der Tür, zwischen deren Beinen sich das Restlicht der verregneten Berglandschaft wie in einem hochgotischen Kirchenfenster sammelte. Außer Heinz, aber eingeschlossen meiner Person, zeigten alle anwesenden Herren mehr oder weniger ein gewisses Interesse an der Frau, während sie ihren kleinen Rucksack ablegte und sich bückte, um die feuchten Bergschuhe auszuziehen. Berufsbedingt machte ich mir sogleich Gedanken über die nächtliche Ordnung; Arzt und Lehrer mochten ja noch zur Not mit einer Frau auf einem Lager schlafen, aber ein Priester, und dazu ein so hoch geschlossener? Würde sie das wollen bzw. dulden? Würde sie hier unten in der Stube schlafen? Würde Heinz ihr seine Privatstube anbieten und bei uns auf dem Lager schlafen?

Das Ereignis ging die Treppe hinauf. Drei Männer bestellten beim vierten ein Bier. Eine wirkliche Unterhaltung kam nicht mehr auf, Fragen nach Radio- und Handyempfang verhallten im unverständlichen Nuscheldialekt des Wirtes, der dann allerdings völlig überraschend eine Runde Bier und Schnaps „auf des Wett'r“ spendierte.

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Es rumpelte über unseren Köpfen. Heinz rumpelte, als er uns die Lokalrunde brachte. „Ich nehme den Platz an der Wand – ist das ok?“ rief die Mädchenstimme, gedämpft durch die Holzdecke. „Die Sachen da schiebe ich ein Lager weiter...“ Hans-Georg wurde unruhig. Das schlechte Wetter schien auf seine Stirn überzugreifen. „Lassen Sie mich bitte einmal vorbei...“ Natürlich machte ich ihm Platz. Mit besorgter Miene ging er zur Stiege. (Das mit der besorgten Miene nehme ich an, obwohl es eigentlich zu dämmrig war, es wirklich erkennen zu können) Wir hörten die ersten Stiegenbretter knarren. Heinz sagte plötzlich in bestem Hochdeutsch: „Zum Wohl!“ und reckte dabei sein Schnäpschen in die Höhe. „Prost!“ - „Zum Wohl!“ feierte sich die dezimierte Männerrunde. „Es ist manchmal bestimmt ganz schön einsam hier...“ bemerkte ich wenig geistreich. Nach dem gemeinsamen Leeren des Bieres hörten wir die restlichen Stiegenbretter knarren. Heinz holte eine zweite, dann eine dritte Runde. Das weiß ich noch. Ob er mitgetrunken hat, weiß ich nicht mehr genau. Die zweite Runde schon, glaube ich. Aber so genau weiß ich es nicht mehr. Es war mir zu dem Zeitpunkt auch nicht mehr wichtig. Was wir geredet haben, weiß ich auch nicht mehr. Aber dann hörten wir Hans-Georg stöhnen. Da haben Friedrich und ich uns angesehen und gegrinst. Wir haben wohl beide dasselbe gedacht: Jetzt hat er seinen Schöpfungsakt. Aber dann ist die Frau gekommen und hat gesagt: „Kann mal jemand helfen?“ Der Arzt und ich sind nach oben gegangen, an ihr vorbei.

*

Und dann hat er da gelegen, ganz nackt. Nur ein paar schwarze Socken an den Füßen als letzte Zeichen seiner priesterlichen Würde. Friedrich hat ihm überraschend pietätvoll die Augenlider über die erstarrten Augen geschoben. „Scheiße!“ hat er überraschend unwissenschaftlich gesagt. Normalerweise heißt das ja: Plötzlicher Herztod.

Und dann sah ich meinen Rucksack. Und mein leeres Portemonnaie. „Scheiße!“ hörte ich das Echo aus meinem Mund.

***

Ende 1:

Ich muss mich entschuldigen, Ihnen ein solches Ende präsentieren zu müssen. Aber dieser Bergurlaub war einfach nur Scheiße.

*

Ende 2:

Nachtrag: Ich habe Friedrich wiedergetroffen. In der Schweiz. In einem Hotel. Bei einer philosophischen Tagung. Er war überraschend wortkarg. Haben Sie sich einmal gefragt, warum Ereignis Er-eig-nis heißt? Die wirklichen Ereignisse sind oft tödlich. Und nur im Tod ist man ganz bei sich selbst.

*

Ende 3:

Manchmal denke ich an Hans-Georg. Dass uns ausgerechnet eine Bergwanderkarte mit einem Kulikringel um das Wort „Säule“ verbindet. Warum musste ausgerechnet er sterben, der Seelsorger, der so bewusst und selbstständig Lebende, der gut Proportionierte – im Gegensatz zu mir?! Hätte ich mich nicht vorher über die Hütte erkundigen müssen, dass es dort gewisse Unregelmäßigkeiten gegeben hat? Aber wer sagt einem das und wo? Bin ich nun nicht in der Pflicht – als Überlebender sozusagen –, dem Unwesen des Hüttenwirts und seiner Komplizin das Handwerk zu legen? Mehr noch, sollten ich nach dieser biographisch einschneidenden Erfahrung nicht darauf hinwirken, dass alle Berghütten sich in Zukunft einem gewissen Moralkodex unterstellten sollten, so dass jeder arglose Bergwanderer dort auch wirklich SICHER ist?





Die Ratten

Wenn ich – wie jetzt im Herbst – abends durch die Straßen der Kleinstadt gehe, dann bin ich oft allein. Ich bilde mir ein, früher wären mehr Leute auf der Straße gewesen. Mag sein, dass sie jetzt doch mehr mit dem Auto fahren und weniger zu Fuß gehen, mag sein, dass es an meiner schlechten Erinnerung liegt. Jedenfalls genieße ich diese Verlorenheit draußen in der Kälte, während ich in den heimeligen Wohnstuben überall dieses bläuliche Flackern sehe. In einem Haus – das ist lustig – flackern alle vier Fernseher im Gleichtakt. Man sieht das gleiche Programm.

Ich sehe dieses Programm nicht. Die Kälte beißt in die Nase und in die Schädelkopfhaut. Die Nase tropft, und der Kopf schmerzt etwas. Aber ich genieße das. Es fühlt sich an wie Leben. Ich sehe den Atem vor meinem Gesicht, und dort, wo immer noch kein fester Gehweg die parkenden Autos vom Straßenrand vertreibt, hinterlassen sogar meine Schritte Spuren – in denen der Autos. Warum habe ich meinen Hut nicht mitgenommen, den ich mir gerade noch im Urlaub gekauft habe? Dann hätte ich wenigstens keine Kopfschmerzen zu ertragen. Werde ich etwa eitel? War ich doch sonst nicht.

Solange mich die Kälte beißt, solange stimmt mich der Anblick eines beleuchteten Wohnzimmers milde. Hinter den Gardinen wohnen glückliche Menschen, die satt und zufrieden nach getaner Arbeit ihren wohlverdienten Feierabend genießen. Samstags gehen sie aus. Sie gehen feiern, und mancher braucht den Sonntag um die Folgen eines besonders lustigen Abends auszukurieren. Diese Menschen hinter den Gardinen sind so glücklich, dass ich als Bewohner dieser Stadt stolz sein muss. Zugegeben – hier wohnt jemand mit einem behinderten Kind, dort eine farbige Familie mit einem Flüchtlingsschicksal, die sich aber zu einer bürgerlichen Existenz durchgebissen haben. Sie haben es trotzdem geschafft normal zu sein, oder besser: normal zu werden. Sie leben wie ich – mit Arbeit und anschließendem Fernsehabend. Meine Stadt ist sauber, und ich genieße das. Draußen im Wald, da haben einige von uns Gartenabfälle entsorgt. Aber dann kam der Sturm, warf die Bäume samt Wurzeln um und mit ihnen die Abfälle. Sie haben alles wieder hergerichtet, und die Abfälle sind nicht mehr da. So hat sich selbst das noch gefügt. Auch die Häuser sind sauber. Und die Autos, wenigstens mehr als woanders.

Meine Schwester aus der großen Stadt hat mir erzählt, dass sie jetzt eine Rattenplage haben. Gegenüber war eine alte Fabrik, fast so alt wie Fabriken überhaupt sein können im Ruhrgebiet. Die haben sie abgerissen und einen Supermarkt dahingesetzt. Egal ob sie den brauchen oder nicht, das sieht jetzt alles viel offener aus jetzt. Bloß die Sache mit den Ratten. Die wohnten unter oder in der alten Fabrik. Haben natürlich jetzt kein Zuhause mehr. Sind dann durch diese ganzen unterirdischen Rohre, Kanäle und sonstige Wege, die wir von oben nicht sehen, unter der Straße durch zu ihnen rüber. Und jetzt hat meine Schwester die ganzen Ratten. Haben die Zebrafinken in ihrer Voliere tot gebissen. Oder Kanarienvögel, was sie da grad drin hatte. Ist schon schade. Überall diese Ratten, das ist schon eklig! Auf der anderen Straßenseite muss noch einiges getan werden, damit das Gelände richtig schön wird. Im Moment haben sie noch etwas Probleme das mit den Autos zu regeln. Aber im Grunde kommen ja nicht so viele wie sie gerechnet haben. Also wird das schon werden. Alles wie an so vielen Ecken, wo sie jetzt Fabriken abreißen und Supermärkte hinbauen. Nur meine Schwester kann sich noch gar nicht so richtig über den Supermarkt direkt vor der Haustür freuen. Kann ich gut nachfühlen. Wenn du einmal die Vorstellung hast, der Boden unter dir ist gar nicht wirklich fest und zu, sondern da sind ganz viele unterirdische Gänge und Wege für Ratten, die deine Lieblinge tot beißen. Tausende, Millionen Ratten. Die sind überall. Frag die Leute von der Stadt mit den orangenen Autos.

Neulich habe ich gehört, die Leute von der Fernsehwerbung probieren an Ratten im Labor aus, ob ihre Fernsehwerbung in den Rattengehirnen ankommt. Wenn sie dreimal in der Minute denselben Reiz bekommen, behalten sie das viel besser als wenn der nur einmal in der Minute kommt. Deshalb bringen die in der Werbung jetzt auch so kurz hinter einander dreimal denselben Werbespot.

Solange mich die Kälte beißt, solange stimmt mich der Anblick eines beleuchteten Wohnzimmers milde. In meinem warmen Wohnzimmer fühle ich mich wie eine von Millionen Ratten.





Noah 2.0 (PDF)




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