Vom Wurzelziehen zum Chaos


Schriftliches Wurzelziehen - eine Näherungsmethode

Woher weiß der Taschenrechner, wie groß die Wurzel von 5 ist?

Die Ingenieure von modernen Taschenrechnern bedienen sich einer alten Technik, die der damals bereits schon vollständig erblindete Leonhard Euler in seiner "Algebra" niederschreiben ließ.

Mit einer genauen Rechenmethode konnte man sich nun der Wurzel aus 5 beliebig nah annähern.

Wir können das in einem kleinen Experiment heute viel schneller als der berühmte Mathematiker in seiner Zeit: Wir nehmen uns einen Taschenrechner zur Hand, geben eine Zahl ein, von der wir glauben, dass sie in der Nähe der Wurzel aus 5 liegt und geben abwechselnd zwei Befehle - immer und immer wieder:

  1. Bilde den Kehrwert
  2. Addiere 1

Euler hat diesen Vorgang damals streng mathematisch verstanden - als Lösung einer quadratischen Gleichung. Im zweiten Teil seiner Algebra auf Seite 330f sucht er nach der Lösung der Gleichung x2 = x + 1 . Teilt man diese Gleichung auf beiden Seiten durch x, dann erhält man genau unsere beiden Anweisungen: Suche nach einer Zahl, die gleich bleibt, wenn man zuerst den Kehrwert bildet und dann 1 addiert: x = 1/x + 1.

Die Lösung x ≈ 1,618 ist zwar nicht die Wurzel aus 5, man muss das Ergebnis erst noch verdoppeln und dann 1 subtrahieren. Aber die Methode ist klar, und sie hat Konsequenzen, von denen Euler nichts ahnen konnte. Aber er hat den Grundstein dazu gelegt.

Dazu visualisieren wir den Vorgang mit heutigen Hilfsmitteln. Fasse dazu in der folgenden interaktiven Grafik den blauen Punkt unter dem schwarzen Stab mit der Maus und bewege ihn hin und her. Jeder schwarze Stab symbolisiert eine Zahl auf der Zahlengerade, die nach fünf Rechenschritten noch nicht in der Toleranzentfernung der Lösung lag, ein roter Stab die besseren Startzahlen. Du kannst auch die Toleranz ändern, wenn du gute Augen und/oder einen großen Bildschirm hast, die Grafik mit gehaltener linker Maustaste verschieben oder mit dem Mausrad vergrößern und verkleinern.

Eine andere Gleichung

Johann Bernoulli

(1667 - 1748)

Das Auflösen von Gleichungen war über Jahrhunderte ein zentrales Thema der Algebra. Viele praktische Probleme konnten damit nicht nur gelöst, sondern vor allem in eine zusammenhängende Theorie gefasst werden, die ein übergreifendes Verständnis ermöglichte. Schon Euler wusste, dass es für solch eine zusammenfassende Theorie eine neue Menge von Zahlen geben musste - die Komplexen Zahlen, die bei ihm noch "unmögliche" oder "imaginäre" Zahlen hießen. Waren schon die irrationalen Zahlen wie die Wurzel aus 5, die keine periodische Nachkommaentwicklung hatten und sich nicht als Verhältnis (Bruch) zweier ganzer Zahlen darstellen ließen, dem normalen Mathematik-Studiosus damals ein Graus, so waren es die "unmöglichen Zahlen" umso mehr. Die irrationalen Zahlen lagen wenigstens noch auf dem zahlenstrahl - irgendwo versteckt zwischen den Brüchen. Die Komplexen Zahlen hingegen brauchten eine Zahlen-Ebene. Aber dazu später mehr.

Sehen wir uns das Schaubild für die näherungsweise Lösung der Gleichung x2 + x − 1 = 0 an

Man sieht an der Tabelle rechts, dass auch hier der Wert 1,618 als Zielwert erreicht wird - also Lösung der Gleichung ist. Die roten Startwerte, die "schnell" zum Ziel führen, liegen aber in einem anderen Bereich, als bei der ersten Gleichung. Diesen Bereich können wir visualisieren, indem wir den blauen Punkt unter der waagerechten Achse mit der Maus fassen und nach rechts und links bewegen.

Bisher waren die Ergebnisse so, wie wir es erwarten: Komme ich mit einer Zahl schnell zum Ziel, dann ist es wahrscheinlicher, dass ich mit einer in der Nähe liegenden Zahl ähnlich schnell zum Ziel komme als mit einer weiter entfernt liegenden. Minimale Änderungen der Startbedingungen sollten zu vergleichsweise kleinen Änderungen im Endergebnis führen.

Verschwindende Streifen

Kommen wir zu einer leicht veränderten Gleichung mit höchst merkwürdigem Verhalten:

x2 − x + 1 = 0

Findige Neuntklässler mögen sofort einwenden: Diese Gleichung hat doch gar keine Lösung! Leonhard Euler kontert: Doch, sogar zwei, allerdings zwei "unmögliche" Lösungen. Doch zuerst gehen wir dem höchst merkwürdigen Verhalten unserer Streifengrafik nach und versuchen uns an einer Erklärung. Den blauen Punkt A anfassen und eine Zeit hin und her bewegen...

Einzelne rote Streifen tauchen auf, werden kleiner und verschwinden... Neue rote Streifen tauchen auf, werden kleiner und verschwinden... Immer wieder... Wo tauchen die nächsten Streifen auf? Und warum nicht an derselben Stelle? Es ist doch nur eine einfache Gleichung...

Und die Erklärung? Wer hat eine Idee?

Es handelt sich hier tatsächlich um unser erstes kleines "Chaos", von der die Chaostheorie handelt. Bei unglaublich nah beieinander liegenden Ausgangspositionen erhalten wir völlig unterschiedliche Ergebnisse, was bei der etwas groben Grafik dann aussieht wie Willkür, Zufall, Zauberei - wie man will.

Das gleiche Phänomen in der Ebene der Komplexen Zahlen

Jeder Streifen symbolisierte eine Zahl auf der Zahlengeraden der reellen Zahlen. Um der Lösung dieses merkwürdigen Phänomens näher zu kommen, wechseln wir mit Leonhard Euler in eine andere Zahlenwelt: Die Welt der komplexen Zahlen. Eine komplexe Zahl entsteht dadurch, dass ein Mathematiker sich nicht damit zufrieden gibt, dass die Gleichung x2 = -1 keine Lösung hat, sondern dieser "unmöglichen" Lösung einen fiktiven oder imaginären Namen gibt: i.

Eine komplexe Zahl ist nach Leonhard Euler ein "Binom", eine Zahl, die aus zwei (Bi-) Namen (-nom) bzw. Werten besteht:

z = a + b·i

Die komplexen Zahlen werden nun nicht mehr auf einer Geraden veranschaulicht, sondern in einem Koordinatensystem, auf der der reelle Anteil a auf der ersten Achse, der imaginäre Anteil b auf der zweiten Achse abgetragen wird. Jede komplexe Zahl ist damit ein Punkt in der Zahlenebene.

Die volle Tabelle am rechten Bildrand sagt: Punkte in der komplexen Zahlenebene sind so verschwindend klein, da nehme ich doch gleich zehn Stück nebeneinander, lasse sie gleichzeitig berechnen und anzeigen. Wenn ich dann mit dem Bewegen des Punktes A "male", dann sehe ich zehnmal so schnell ein mögliches Ergebnis. Der Wert "Dichte" im Algebrafenster links bedeutet: Die 10 Punkte liegen jeweils 0,02 reeller Anteil voneinander entfernt.

Auch hier geht es wieder darum, zu "malen" und die roten Bereiche zu suchen. Hier sind es keine Striche, sondern Flächen. Zum Vergleich mit dem vorherigen Versuch habe ich die Koordinatenachsen sichtbar gemacht - jeder rote Punkt auf der Achse entspricht einem roten Streifen im Versuch vorher.

Mit dem Mausrad lässt sich in die Zahlenebene hineinzoomen und auch wieder heraus. Das Spannende sind hierbei die Muster, die sich ergeben. Ein Merkmal des Chaos lässt sich in diesem Bild schon erkennen: Die Formen, die rund um die erste Achse entstehen, sind selbstähnlich. Sie haben alle eine ähnliche Form. Aber die roten und schwarzen Bereiche haben überall noch glatte Kanten...

Es lässt sich erahnen, dass zwischen zwei dieser Unendlich-Zeichen oder liegenden Achten noch unendlich viele kleinere liegen. Die unendliche Vielfalt, mit der das mathematische Chaos aufwartet, deutet sich an.

Eine Gleichung mit Apfelmännchen

Die berühmteste Grafik des Vaters der Chaostheorie ist die Mandelbrotmenge, in der Umgangssprache auch Apfelmännchen genannt. Bei dem Versuch, bei einer weiteren Gleichung gute Startpunkte zum Finden einer Lösung zu suchen, begegnet es uns bald - hier im Bereich zwischen 0 ≤ a ≤ 0,5:

Fasse den linken Rand der Punktmenge bei A mit der Maus, suche die Bereiche, wo die rote Menge in die schwarze übergeht, und male...

Man erkennt den Unterschied zum Bild der vorherigen Folge: Die Grenze zwischen rotem und schwarzem Bereich ist nicht glatt, sondern zerklüftet - auch nicht ein bisschen zerklüftet, sondern unendlich vielfältig zerklüftet. Die Eigenschaft der Selbstähnlichkeit lässt sich mit ein bisschen "Malen" schnell sehen. Wenn du es mühsam findest, zoomen und malen zu müssen, denke daran, dass Georg Cantor vor über 100 Jahren noch keinen Computer kannte, Mandelbrot seinen Computer nicht per Tastatur, sondern über Magnet- oder Lochkarten füttern musste! Die Arbeit an einem solchen Bild dauerte Tage...



Materialien zum Thema

Videos:

  1. Anwendungsbezüge (Guter Film von ARTE): https://www.youtube.com/watch?v=KxpKVZRevOE
  2. Anschauliche, aber anspruchsvolle Einführung in die Komplexen Zahlen durch einen Fachmann: https://www.youtube.com/watch?v=2sDXHbSJOrM
  3. Wunderschöne hochauflösende Fraktale – rein mathematisch: https://www.youtube.com/watch?v=JOEExX1USD4

Präsentationen/Vorträge:

Paradigmenwechsel im Denken: Rettendes Chaos